Der Warntag am 08. Dezember sorgt bundesweit für Aufsehen. Nach dem Desaster beim Warntag 2020, der Absage 2021 und dem diesjährigen Aufschub vom 08. September auf den 08. Dezember, kommt nun endlich wieder die Probe für den Ernstfall. Getestet wird der Warnmittelmix für Deutschland. Dabei soll auch der Cell Broadcast erstmalig deutschlandweit zum Einsatz kommen und eine umfassende Warnung der Bevölkerung ermöglichen.
Doch nicht nur die funktionierende Warnung ist im Ernstfall entscheidend: Erfolgreiche Krisenbewältigung bedeutet noch viel mehr. Prof. Matthias Hollick, Wissenschaftlicher Koordinator von emergenCITY führt dazu aus: „Warnungen können überlebenswichtig sein und bieten wichtige Informationen und erste Empfehlungen für Betroffene. Aber man sollte diese nicht isoliert betrachten! Wir müssen uns fragen: Warnung, aber was dann?“
emergenCITY erforscht Lösungen, die in allen Stadien von Krisen nützen. Mit der vereinten Expertise der rund 90 Wissenschaftler:innen wird an interdisziplinären Projekten gearbeitet, die aufzeigen, wie bessere Krisenbewältigung aussehen kann. Es geht darum: Was passiert im Anschluss an die Warnung im weiteren Verlauf einer Krise? Welche Technologien helfen uns bestmöglich durch die Krise? Und welche Maßnahmen können sogar schon im Vorfeld getroffen werden?
Denn schon bei der Vorbereitung fängt gute Krisenbewältigung an. In Befragungen wurde beispielsweise die Vorbereitung lokaler Katastrophenschutzämter auf den Ernstfall untersucht und Empfehlungen für eine bessere Vernetzung mit wichtigen Akteuren kritischer Infrastrukturen und der Bevölkerung herausgegeben. „Vor allem müssen Städte mit der Bevölkerung gemeinsame Pläne zur Krisenbewältigung erarbeiten, um auf Krisenereignisse vorbereitet zu sein,“ so Prof. Michèle Knodt, stellvertretende Koordinatorin von emergenCITY, „Die Bürger:innen müssen wissen, wie sie sich im Anschluss an die Warnung verhalten sollen.“
Auch die Phase der ersten Krisenreaktion bedarf stetiger Forschung und Entwicklung: Im Moment einer Krise muss unverzüglich gehandelt werden – und das, obwohl womöglich Gebiete nur noch schwer zugänglich sind, Mobilfunknetze ausfallen, Strom- und Wasserinfrastrukturen zusammenbrechen. Genaue Lageinformationen und Möglichkeiten der Notfallkommunikation sind dabei besonders wichtig. emergenCITY entwickelt deshalb eine Einsatzgruppe digitaler Helfer, die Aufklärungsarbeit leisten und viele nützliche Aufgaben übernehmen. Dazu gehört der Rettungsroboter Scout, der ausgestattet mit Systemen wie Radar, LiDAR, Geigerzähler, Infrarotkamera und Kamera aus Gefahrenzonen ein Lagebild liefert und nach vermissten Personen sucht. An den Rettungsrobotern geforscht wird in Zusammenarbeit mit dem erfolgreichen Robotik-Team HECTOR der TU Darmstadt und dem Deutschen Zentrum für Rettungsrobotik (DRZ). So können im Krisenfall die Roboter Scout von emergenCITY und Telemax vom DRZ zusammenarbeiten und sich mit ihren Einsatzmöglichkeiten gegenseitig ergänzen. Eine anderes Forschungsteam, Aerial Crisis Networks (ACN), arbeitet wiederum mit unbemannten Luftfahrtsystemen wie Drohnen. Diese können eine Reihe praktischer Aufgaben ausführen und Einsatzkräfte unterstützen. Sie können Aufnahmen und Messungen von betroffenen Gebieten aus der Luft durchführen. Denkbar ist aber auch, auf ihnen Medikamente als Nutzlasten zu montieren und in Krisengebiete zu transportieren. emergenCITY geht in der Forschung sogar noch einen Schritt weiter: Mit Hilfe mehrerer Drohnen soll ein grundlegendes dezentrales Kommunikationsnetz aufgebaut werden. „Drohnen gehören schon heute zum Arsenal der Rettungskräfte, werden aber in erster Linie zur Aufklärung eingesetzt. Mit unserer Forschung wollen wir die Anwendungsfälle auch mit bestehenden Systemen erweitern,“ so ACN-Missionssprecher Dr. Lars Baumgärtner. Ausgestattet mit entsprechender Technik könnte eine Aufklärungs- oder Transportdrohne während des Flugs über das Krisengebiet gleichzeitig ein zusammengebrochenes Mobilfunknetz lokal wiederaufbauen – und so eine wichtige Infrastruktur bereitstellen.
Über den weiteren Verlauf von Krisen macht sich unter anderem das Team der Forschungsmission eHUB Gedanken. Der Fall eines überregionalen, langanhaltenden Blackouts mit kaskadierendem Ausfall wichtiger kritischer Infrastrukturen wird im neuen Reallabor eHUB auf dem Campus Lichtwiese der TU Darmstadt erprobt. Das energieautarke Smart Home, das an Fassade und Dach mit Solarpanelen ausgestattet ist, soll nicht nur mehrere Tage lang auf sich alleine gestellt in Betrieb bleiben, sondern testweise auch als Informations-HUB für die Bevölkerung, Einsatzzentrale und Ladestation für die Drohnenflotte fungieren. „Ein Netzwerk, bestehend aus einer Vielzahl an eHUBs, könnte einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Basisdienstleistungen wie etwa Energieversorgung oder Kommunikation im Falle eines Blackouts im Notfallbetrieb aufrechtzuerhalten,“ so eHUB-Missionssprecher Dr. Joachim Schulze. Eröffnet und auch für Besucher:innen zugänglich wird das eHUB im kommenden Frühjahr. In der Phase der Bewältigung muss die Bevölkerung über alle Hilfsmöglichkeiten auf dem Laufenden gehalten werden. Daher befasst sich das Projekt READit mit der Verbreitung von Informationen zum Krisengeschehen im Stadtraum, mit dem Ziel insbesondere auch vulnerable Gruppen der Bevölkerung zu erreichen. Die Idee: Litfaßsäulen sollen aufgerüstet werden und Notfallinformationen anzeigen oder durchsagen. Denn die Säulen finden sich in großer Anzahl und flächendeckender Verteilung in vielen deutschen Mittel- und Großstädten, wo diese seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts das Stadtbild mitprägen. „Die Litfaßsäule ist das Stadtmöbel überhaupt und würde in der smarten Ausführung weiterhin große Akzeptanz durch die Stadtbewohner:innen erfahren,“ so Dr. Joachim Schulze, der auch an diesem Projekt beteiligt ist. Sie stehen an hoch frequentierten Orten und bieten ausreichend Platz, um in ihrem Inneren die entsprechende Technik zu installieren und diese mit Batteriespeichern und Solarpanelen im Krisenfall am Laufen zu halten. Die smarten Litfaßsäulen könnten über ein modernes Funksystem wie LoRa kommunizieren, denn die einzelnen Säulen stehen meist nicht weit voneinander entfernt – innerhalb Darmstadts sind es jeweils ungefähr 300 Meter bis zur nächsten Litfaßsäule.
Auch die Zeit nach und zwischen Krisen ist für die Forschenden von Bedeutung: Das Lernen aus vergangenen Krisen ist fester Bestandteil von emergenCITY, denn durch den Rückblick auf das Geschehen, können wichtige Rückschlüsse auf benötigte Strategien und Technologien gezogen werden. Dazu gehört die Befragung direkt betroffener Menschen und der an der Krisenbewältigung beteiligten Akteure, die Analyse von Daten aus der Krise und ebenso der Blick auf historische Krisenereignisse. Ein Forschungsprojekt wertet beispielsweise zurzeit Bewältigungsstrategien der Flutkatastrophe 2021 aus – die daraus resultierenden Empfehlungen sollen schon bald in einem Policy Paper veröffentlicht werden.
Diese und viele weitere Projekte werden bei emergenCITY erforscht, mit dem Wissen aus den Feldern Informatik, Elektrotechnik und Informationstechnik, Maschinenbau, Bau- und Umweltingenieurwissenschaften, Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften, Architektur, Wirtschaftswissenschaften sowie Rechtswissenschaften. Dabei vereint die Wissenschaftler:innen der Fokus auf resilienzbasierte Ansätze: Denn die nächste Krise ist noch nicht bekannt – gute Vorbereitung bedeutet deshalb, durch widerstandsfähige und flexible Systeme handlungsfähig zu bleiben und auch auf unvorhergesehene Situationen schnell reagieren zu können.
Nun aber zurück zum Warntag: Das aus dem Warntag in der Zukunft ein breiter gedachter Krisenübungstag werden könnte wird in einer Kurzgeschichte thematisiert, die einige Jahre in die Zukunft denkt.